Im Zeichen des Friedens – Wie die Proteste in Magdeburg begannen

Autorin: Ramona Ostermeier

Nicht nur in Städten wie Leipzig und Berlin, sondern auch in Magdeburg hat sich im Herbst 1989 ein breiter gesellschaftlicher Widerstand formiert, der seinen Unmut in massiven Demonstrationen, gesellschaftlichen Debatten und Aktionen zum Ausdruck gebracht hat. Das Ziel war politische Teilhabe. Der konstruktive Protest und die politische Arbeit der alten wie neuen Bewegungen hat ermöglicht, dass es nicht zu einem gewaltvollen Umsturz kam, sondern zu einer friedlichen Revolution.

Kopf Magdeburg

Im Herbst 1989 gingen die Menschen friedlich auf die Straße. © Dieter Müller

„Bei der Friedlichen Revolution gibt es nicht die böse, schießende, gewalttätige DDR-Regierung und das Volk, das Geknechtete, das sich jetzt erhebt. So war es nicht. Es ist ein langer Prozess mit vielen Facetten. Das ist sicher nicht nur unsere Lebenserfahrung, andere Menschen mögen anders darüber denken.“ Reinhard und Annelie Spindler, er aus Oberlungwitz in Sachsen und sie eine gebürtige Magdeburgerin, waren dabei, als es in der DDR und somit auch in Magdeburg zur Friedlichen Revolution kam. Wie viele Magdeburger waren auch sie zunehmend unzufrieden mit der Staats- und Wirtschaftsführung. Immer mehr Magdeburger wollten ihren Unmut nicht länger in Gedanken fassen und so formierte sich zunehmend friedlicher Widerstand.

Die evangelische Kirche – seit Jahrzehnten ein Ort oppositioneller und kritischer Stimmen in der DDR – schaffte auch in Magdeburg den wichtigsten Raum für den anschwellenden Strom kritischer Stimmen und Forderungen nach einer mehr auf Demokratie ausgelegten Erneuerung. Der Dom wurde zum Zufluchtsort, Zentrum sowie Wahrzeichen der „gesellschaftlichen Erneuerung“ und die Domprediger Waltraut Zachhuber und Giselher Quast zu ihren Leitfiguren. Auch die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Kulturschaffenden und die Frauenbewegung in der Stadt leisteten zunehmend Widerstand und verfolgten zwar verschiedene Ziele, hatten aber alle gemeinsam den großen Plan, die unzureichende demokratische Mitbestimmung zu verbessern.

Die Friedliche Revolution begann schon Jahre zuvor

Die Dynamik, die die Proteste im Herbst 1989 auch in Magdeburg entwickelte, überraschte selbst viele Beteiligte; die Proteste überraschten nicht. Die Politik der SED hatte spätestens seit Ende der 1970er Jahren zu zunehmender Kritik in unterschiedlichen Bewegungen geführt. Und dann kam das Jahr 1985 und Michail Gorbatschow als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion an die Macht – ein Name, der bei Ehepaar Spindler im Laufe des Gesprächs oft fällt. Er fuhr eine mildere Linie und setzte sich für eine neue Parteipolitik mit offenbar weniger Gewalt und mehr Veränderungen ein, nachdem die politische Situation unter seinen Vorgängern Juri Andropow und Konstantin Tschernenko stagnierte.

„Das fanden wir toll, das waren Reformen, die wir so in etwa auch haben wollten.“ Nach einer kurzen Stille erhebt Annelie Spindler mit dem nächsten Satz ihre Stimme mit einem schroffen Unterton: „Die DDR- Regierung vertrat aber den Standpunkt, was die da in der Sowjetunion machen, ist ihre Sache und das hat die Menschen dann besonders enttäuscht und aufgebracht. Das legte den Grundstein für die Proteste im Sommer 1989. Die Menschen hatten die berechtigte Hoffnung, dass die Sowjetunion in der DDR dabei nicht eingreifen würde.“ So wie Annelie Spindler sahen die Situation zu dieser Zeit wohl auch viele andere Menschen in der DDR.

Reinhard und Annelie Spindler © Jana Witte

Ein Sommer mit Demonstrationen für Reformen und Gerechtigkeit begann – laut, aber friedlich. Die Menschen gingen in die Kirchen, um dort zu sagen, was sie schon lange sagen wollten. Sie konnte dem gewagten Widerstand einen Schutz bieten, da die Stasi der vom Staat unabhängigen Kirche nicht viel anhaben konnte.

Giselher Quast war neben Waltraut Zachhuber einer der Domprediger in Magdeburg. Für ihn hatte die Friedensbewegung in der Kirche mit den Vorkommnissen um 1979/80 ihren Anfang genommen: „Das war die Zeit, in der die Mittelstreckenraketen, die Pershing 2 in Westdeutschland und die SS-20 in Ostdeutschland, stationiert wurden und die DDR militarisiert wurde. Da hat sich in Westdeutschland die Friedensbewegung gegründet und parallel dazu hier die Bewegung Schwerter zu Pflugscharen. Und seitdem haben wir in der Kirche Friedenssonntage und Oppositionsveranstaltungen gemacht – das gehörte einfach zur Auseinandersetzung dazu.“ Der Protest nahm schnell an Fahrt auf, nachdem im Mai 1989 klar war, dass die Kommunalwahlen gefälscht waren.

Polizisten prügelten rücklings auf Demonstranten ein

Auch in anderen Ecken der Welt gab es Proteste, die die DDR nachhaltig beeinflussten. So formierte sich in Polen die Streikbewegung Solidarność, die mit Protesten und langen Gesprächen mit der Regierung am „Runden Tisch“ für einen Systemwechsel sorgte und schließlich sogar mit einer absoluten Mehrheit ins Parlament einzog. Am 4. Juni 1989 wurde auf Demonstranten in Peking am himmlischen Platz des Friedens geschossen. Die DDR-Regierung stellte sich auf die Seite der chinesischen Regierung, was wohl viele Menschen zum Nachdenken über die Handlungen und Absichten des Staates anregte.

Annelie Spindler erinnert sich, dass „wir das auch an meinem Arbeitsplatz im SKL besprochen haben und dass wir Kollegen gesagt haben, dass das nicht in Ordnung ist. Da haben wir uns das erste Mal bei uns im Betrieb offen negativ gegen die Regierung geäußert.“ Ab dem 15. September 1989 versammelten sich regelmäßig Menschen, um an den Montagsgebeten im Dom teilzunehmen. Sie nannten sie die „Gebete um gesellschaftliche Erneuerung“.

Besonders einschneidende Ereignisse geschahen laut Quast Anfang Oktober. Am 5. Oktober setzte der Staat den pass- und visafreien Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei aus. In Magdeburg kamen an diesem Tag etwa 600 Ausreiseantragsteller zum Donnerstagsgebet, das schon seit Januar 1988 für alle Ausreisewilligen im Dom stattfand. Der friedliche Protest zog nun in die Öffentlichkeit über den Breiten Weg in Richtung Zentrum. Quast erinnert sich, wie die Polizei in Höhe Himmelreichstraße die Fronten dichtmachte, rücklings auf die Demonstranten einschlug und sie nach vorne trieb. Wenig später öffnete sich die Polizeisperre kurz, einige Menschen wurden aus der Menge nach vorne gezogen, auf einen Wagen geworfen und zu geheimen Gefängnissen gebracht, in denen sie die ganze Nacht verhört wurden. Das erste Mal schien der Friede gebrochen zu sein.

Der 7. Oktober sollte ein Grund zum Feiern sein – Nationalfeiertag mit Volksfest. Es fand ein Konzert auf der großen Wiese neben der Johanniskirche statt. Einem Jugendlichen wurde übel. „Ein paar Menschen sind zu ihm hingelaufen und wollten ihm helfen. Die Polizei dachte, dass sie sich jetzt prügeln und haben ein Kesseltreiben bis auf den Alten Markt angefangen. Da hat es wieder eine Prügelorgie gegeben. Die Jugendlichen haben an die Türen geklopft und kein Anwohner hat sie reingelassen“, erinnert sich Giselher Quast.

„Es wird Blut fließen und die Domprediger werden verhaftet“

Und dann kam der 9. Oktober: Viele bezeichnen diesen Tag als das Datum der Wende, sagt Quast, weil das der Tag mit der höchsten Sicherheitsbedrohung für alle Kirchen war. Der Schießbefehl für die ganze DDR galt bis 17 Uhr. Allen Mitarbeitern der Großbetriebe wurde mit dem Hinweis, die Innenstadt ab Mittag weiträumig zu umgehen, folgende Botschaft mit auf den Heimweg gegeben: „Heute Abend treffen sich im Dom die finstersten Kräfte der Kontrarevolution und es wird Blut fließen und die Domprediger werden verhaftet.“ Die Lehrer warnten die Schulkinder bis zur zweiten Klasse mit den Worten: „Wenn eure Eltern heute Abend in den Dom gehen, werden sie verhaftet und ihr geht ins Kinderheim.“

Später kamen Hunderte gepanzerte Fahrzeuge und leere Mannschaftswagen in die Innenstadt, ausgestattet mit Wasserwerfen und Schiebegittern, um die Demonstranten einzupferchen. Das Stadion war in Flutlicht getaucht, die Stadt dagegen lag komplett im Dunklen, da die Stasi veranlasst hatte, alle Lichter abzuschalten. Doch das hielt die Menschen nicht davon ab, mit Protest für den Frieden zu kämpfen – es kamen dreißigmal so viele Teilnehmer wie zum ersten Montagsgebet am 18. September. „Diese ganze Angstmache hat überhaupt nichts genützt und die Leute kamen mit butterweichen Knien. Damals haben alle immer etwas von einem aufrechten Gang gesagt, also für mich war es der aufrechte Gang mit weichen Knien. Um den Dom herum standen etwa 10.000 bis 20.000 Mann Sicherheitskräfte – das war eine Armee“, berichtet Quast.

Eine Armee aus bewaffneten Volkspolizisten, Stasi-Mitarbeitern, der schwer bewaffneten Bereitschaftspolizei aus der Kaserne in Cracau und den Arbeitern in den Betrieben in Kampfgruppenuniform, „das heißt im Ernstfall hat die DDR die Arbeiter in eine Uniform gesteckt und mit einem Schlagstock ausgerüstet. Wenige Tage vorher ist auf dem Hauptbahnhof ein Güterzug mit einer Landung extralanger Schlagstöcke angekommen.“

Einer dieser Arbeiter in Kampfgruppenuniform war Reinhard Spindler, der in dieser Zeit beim ASMW arbeitete und wie viele seiner Kameraden nur widerwillig gegen die Demonstranten antrat, er stellte damals eindeutig klar: „Ich komme hin, ziehe die Uniform an, aber Gummiknüppel nehme ich nicht.“ Fünf bis sechs Wäschekörbe davon lagen bereit, doch auch an diesem Tag hat der Frieden gewonnen. „An diesem 9. Oktober haben wir die Angst besiegt. Und danach hatte man das Gefühl ‚jetzt können die uns nichts mehr’“, erzählt Giselher Quast.

Die Demonstration, die es nie hätte geben dürfen

Am 23. Oktober folgte eine große Demonstration, die es unangemeldet eigentlich nicht hätte geben dürfen. Schon deshalb bestimmte der erste Schritt aus dem Dom heraus die Richtung in eine entweder gewaltbereite – oder friedliche DDR. Die Demonstranten hielten an diesem Tag Kerzen in den Händen und vielleicht hat schon ein kleines Zeichen wie eine Kerze es damals geschafft, den Frieden zu erhalten, denn „wenn man im Herbst eine Kerze brennend durch die Innenstadt tragen will, dann braucht man eine Hand zum Festhalten und eine Hand zum Schutz der Flamme. Da hat man keine Hand mehr frei, um einen Stein aufzuheben und auf einen Polizisten zu werfen. Das war ein äußerst friedliches Symbol.“

Auf diese Demonstration gingen auch die Spindlers gemeinsam, in dem großen Vertrauen, dass es friedlich bleiben würde. Reinhard Spindler war noch in der Kampfgruppe, aber es gab nie wieder einen Einsatzbefehl: Die Kampfgruppe wurde aufgelöst.

Domprediger Quast war von Menschen aus der DDR enttäuscht

Wenige Wochen später fiel die Mauer: „Dieser Tag war in der ganzen DDR voller Euphorie. Wahnsinn war das Hauptwort. Wahnsinn, das ist toll, das ist toll. Als wir dann nach Feierabend zu Hause waren, haben wir Nachbarn eingeladen und einen Sekt aufgemacht“, sagt Annelie Spindler aufgewühlt. „Mein Mann aber hat schon an dem Tag besorgt reagiert. Was kommt jetzt? Jetzt ist die Mauer offen, was wird uns die Zukunft bringen? Und dann hat er zu mir gesagt: Was jetzt kommt, da werden wir uns wundern. Aber wir haben trotzdem Sekt getrunken.“

Domprediger Quast wiederum war nach dem Mauerfall von vielen Menschen aus der DDR enttäuscht, weil sie keine Veränderung wollten, sondern Wohlstand. Und den suchten sie im Westen. „Die Leute, die im Herbst 89 auf die Straße gegangen sind, waren 3 Prozent der Bevölkerung – die Mutigen und Aktiven dieser Zeit. Das heißt, dass 97 Prozent hinter der Gardine gestanden und zugeguckt haben oder es war ihnen gleichgültig. Mit 3 Prozent kann man zwar einen ganzen Staat stürzen, aber man zieht nicht in den nächsten Bundestag mit ein.“ Diese 3 Prozent waren zwar eine ganz kleine Bewegung, aber sie hat mit ihrem Mut und ihrem Engagement ein bedeutendes Zeichen für den Frieden und die Demokratie gesetzt – für diese Generation und alle, die noch folgen werden.

Domprediger Giselher Quast

Domprediger Giselher Quast © Fabian Benecke