Autor: Fabian Herrmann
Nach dem Fall der Berliner Mauer herrschte auch in Magdeburg Ratlosigkeit: Wie sollte das tägliche Leben weitergehen und wer durfte nun darüber entscheiden? Der Runde Tisch im Magdeburger Rathaus hielt die Stadt am Laufen.
Eine ausführliche Aufarbeitung des Runden Tisches Magdeburg finden Sie unter: Runder Tisch Magdeburg
Die vielen tausend Demonstranten für gesellschaftliche Reformen in der DDR auf Magdeburgs Straßen und die Rufe „Wir sind das Volk!“ zwangen im Herbst 1989 den bis dahin allmächtig erscheinenden Staat in die Knie. Unter den Pfiffen der Magdeburger trat der damalige Oberbürgermeister Werner Herzig am 8. November zurück. Der SED-Politiker hatte sich in 24 Jahren Amtszeit keiner einzigen demokratischen Wahl stellen müssen. Einen Tag später stand die bisher schwer bewachte Grenze der DDR offen – die Berliner Mauer war gefallen. Trotz dieser alles überrollenden Ereignisse musste aber erst mal der Alltag weitergehen. Die Frage war: Was jetzt?
„Da entstand so ein Machtvakuum“, erinnert sich Wilhelm Polte.
Vom Dezember 1989 bis Mai 1990 arbeitete der Runde Tisch im
Magdeburger Rathaus für eine neue Stadtpolitik.
© Stadtarchiv Magdeburg, Sammlung Lück
(Stiftung Kunst und Kultur der Stadtsparkasse Magdeburg)
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Er hatte mit 85 Mitstreitern am 18. November 1989 die Sozial-demokratische Partei der DDR im Bezirk Magdeburg gegründet, um eine eigene politische Kraft gegen den Führungsanspruch der SED zu bilden. Besonders die plötzliche Ratlosigkeit der bisher allein regierenden Funktionäre und Bürokraten ist ihm in Erinnerung geblieben:
„Es herrschte Unsicherheit überall in der Stadtverwaltung. Wie sollten sie sich verhalten? Was würde aus den Mitarbeitern werden? Wohin würde die Reise gehen?“
Die alte SED-Staatsmacht war ohnmächtig, und es regte sich der gesellschaftliche Gestaltungswille in den neuen Gruppierungen und Parteien, die aus der Bürgerbewegung des Herbstes erwachsen waren. Unter dem Dach der evangelischen Kirche traf sich am 4. Dezember in Magdeburg der „Runde Tisch Stadtmission“.
Nach dem Vorbild des gerade gegründeten Zentralen Runden Tisches in Ost-Berlin,
planten Vertreter vom Demokratischen Aufbruch, Demokratie Jetzt, Sozial-demokratische Partei, Neues Forum und Initiative für Frieden und Menschenrechte einen eigenen Runden Tisch für die Stadt Magdeburg einzurichten.
Bis zur konstituierenden Sitzung am 19. Dezember kamen noch hinzu: Grüne Partei, die Unabhängige Fraueninitiative Magdeburg und der Kulturbund. Vertreter der SED, die sich ab Februar 1990 PDS nannte, der sogenannten „Blockparteien“ und der Stadtverwaltung unter Übergangsbürgermeister Werner Nothe nahmen ebenfalls Teil. Die Bürgerbewegung hat damit die bisherigen Machthaber in ihrer Verantwortung für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände belassen. Der Runde Tisch sollte laut eigenem Selbstverständnis „mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise beitragen, bis demokratische Wahlen durchgeführt werden können.“
„Es ging darum, die Funktions-fähigkeit der Stadt zu erhalten“
Wilhelm Polte arbeitete von Anfang an am Runden Tisch mit und wurde 1990 in die Volkskammer gewählt.
© Bundesarchiv
Für ein solches eigenständiges Gremium gab es in der bisher streng zentralistischen Verwaltung keinen vorbereiteten Plan, also wurde improvisiert, wie Polte erzählt:
„Wir waren da in einem Sitzungsaal im Rathaus [dem heutigen Hansesaal – Anm. d. Verf.], die Tische in Karreeform aufgestellt, rechteckig ringsum.
Die Moderation wurde abwechselnd von Vertretern der Kirchen übernommen. Sekretärinnen der Verwaltung organisierten die Sitzungen und schrieben Protokolle.
Da ging es nicht so sehr um die politischen Vorhaben, sondern darum, Dinge zu entscheiden, um den geordneten Ablauf und die Funktionsfähigkeit der Stadt zu erhalten.
Natürlich haben die Müllabfuhr und Wasserversorgung weiter funktioniert, aber die Demonstrationen gingen ja weiter, und für 1990 standen Volkskammer- und Kommunalwahlen an. Das musste vorbereitet und organisiert werden.“
Dabei, so beschreibt es Polte rückblickend, waren die Repräsentanten der ehemaligen Staatspartei SED am Runden Tisch „nur Statisten“, die „gar nichts gesagt haben, weil sie überhaupt keine Ideen hatten. Ja, was hätten sie auch sagen sollen, in ihrer Lage?“
„Es fehlte überall in der Stadt an Geld und Material“
Als Erstes wurde die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation der Stadt eingefordert. Bisher, so Polte, hatte man allenfalls hinter vorgehaltener Hand über den allgegenwärtigen Mangel, kaputte Maschinen und marode Häuser gemeckert: „Die Stadt war so grau und braun, wirkte verfallen.
Man konnte sich gar nicht vorstellen, wie schön und farbig das mal bis heute werden würde.“,
beschreibt Polte das Stadtbild jener Zeit. Jetzt bestellte der Runde Tisch die städtischen Verantwortlichen zur Berichterstattung ein, fragte kritisch nach und entsandte Vertreter zur Kontrolle in städtische Einrichtungen. Ein drängendes Problem war beispielsweise der Mangel an Telefonen in Magdeburg.
Nur 10 Prozent der Betriebe und Haushalte waren an das Netz angeschlossen. Um sich selbst ein Bild zu machen und am Runden Tisch zu berichten, besuchte Polte die städtische Telefonzentrale am heutigen Universitätsplatz:
Wilhelm Polte wurde nach der Wende zum Oberbürgermeister Magdeburgs gewählt.
© Fabian Herrmann
„Da kam ich rein und mir wurde eine mechanische Telefonverteilanlage Baujahr 1927 gezeigt. Bei der Bombardierung Magdeburgs im Zweiten Weltkrieg war die schwer beschädigt und nie richtig repariert worden. Es waren da allein zehn Leute nur damit beschäftigt, das Gerät halbwegs am Laufen zu halten. Und so fehlte es überall in der Stadt an Geld und Material.“
Eigentlich sollte der Runde Tisch jeden zweiten Dienstag beraten, aber schon ab der ersten Sitzung traf man sich jede Woche. Die vielen Themen und Vorschläge waren trotzdem kaum zu bewältigen. Denn nach 40 Jahren SED-Herrschaft gab es mit dem Runden Tisch erstmals eine Adresse für die Fragen und Eingaben der Magdeburger zur Stadtpolitik. Bisher hatte die Staatspartei gesellschaftliche und politische Entscheidungen allein getroffen, und Polte fügt hinzu:
„Das Bürgertum der DDR war seit dem Mauerbau in den 60er Jahren tot. Ab da dachten die Leute, hier kommen wir auf ewig nicht mehr raus. Dann zog man sich zurück. Jeder hatte seinen Schrebergarten, auch um sich selbst zu versorgen, und dort lebte man. Was in der Stadt passierte, nahm man als gegeben hin und arrangierte sich.“
Beim Runden Tisch konnte man sich jetzt durch Nachfragen erstmals selbst informieren, eigene Vorschläge machen und wieder bürgerliches Engagement einüben. „Der mündige Bürger ist ganz wichtig für eine Demokratie. Da sind die Menschen gefordert mitzuentscheiden, sich einzubringen. Ohne das geht es nicht in einer freien Gesellschaft, die wir ja werden wollten.“, sagte Polte.
Das Themenspektrum am Runden Tisch umfasste Kommunalfinanzen, Arbeit des Bürgerkomitees zur MfS-Auflösung, Gleichstellungspolitik, Neuorganisation des Strafvollzugs, Eigentumsfragen und Stadtentwicklung sowie Kulturprojekte. Auch erste Argumente dafür, dass Magdeburg Landeshauptstadt des neuen Bundeslandes Sachsen-Anhalt werden sollte, kamen am Runden Tisch zur Sprache.
Die gesellschaftliche Erneuerung vollzog sich in
täglicher Kleinarbeit
„Es waren die ‚Mühen der Ebenen‘, die wir da vor uns hatten“, stellt Polte fest. Mit dem Zitat aus Bertold Brechts Gedicht „Wahrnehmung“ von 1949 wurde ursprünglich der Aufbau der DDR nach dem Sturz der Nazi-Diktatur beschrieben: “Die Mühen der Berge haben wir hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen.” Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich am Ende des Niedergangs eben dieser DDR 40 Jahre später wieder eine gesellschaftliche Erneuerung in täglicher Kleinarbeit vollzog.
Wie viele Befugnisse und Entscheidungskompetenz der Runde Tisch bei aller Mühe am Ende wirklich hatte, bleibt dennoch fraglich, denn tatsächlich gab es keine rechtlich-formale Grundlage für sein Handeln. „Es ging eigentlich darum, ein Machtvakuum zu füllen. Da hat es der Verwaltung eine gewisse Sicherheit gegeben, wenn man sich auf den Runden Tisch berufen konnte“, sagte Polte. „In der Phase wurde der Runde Tisch auch von allen akzeptiert. Was er festgelegt hatte, wurde umgesetzt, mehr oder weniger. Das war übergangsweise eine Richtschnur.“
Einige Beteiligte am Runden Tisch setzten die Arbeit in Politik, Verwaltung und Gesellschaft fort, darunter Norbert Bischoff, katholischer Kirchenvertreter, der später Sozialminister und Landtagsabgeordneter der SPD in Sachsen-Anhalt wurde. Editha Beier kämpfte für die Rechte der Frauen in der unabhängigen Fraueninitiative und wurde städtische Gleichstellungsbeauftragte.
Noch heute trifft sie sich mit Gleichgesinnten an einem „Politischen Runden Tisch der Frauen der Landeshauptstadt Magdeburg“. Die Ärztin und Vertreterin der evangelischen Kirche, Susanne Kornemann-Weber, war zuerst Dezernentin, dann Beigeordnete für Soziales, Jugend und Gesundheit der Stadt Magdeburg. Später arbeitete Sie als Bereichsleiterin in der Diakonie und führte bis 2009 die LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen-Anhalt.
Wilhelm Polte wurde am 18. März 1990 für die SPD in dieVolkskammer der DDR gewählt und war von 1990 bis 2001 Magdeburgs Oberbürgermeister– bekannt unter seinem Spitznamen „Willi“. Im Anschluss war er Abgeordneter im Landtag von Sachsen-Anhalt bis 2006. Im Ruhestand ist er heute weiter gesellschaftlich und ehrenamtlich aktiv und blickt zwiespältig auf die Zeit zwischen Mauerfall und Deutscher Einheit zurück:
„Es ging vielen um das bessere Leben. Das ist legitim, aber zu dem Zeitpunkt, da ging es darum, politisch die Dinge neu zu ordnen und auf den Weg zu bringen. Und auch ein Stück vielleicht sich eigenständig einzubringen und nicht nur zu warten, dass nun über Nacht jeden Tag die Banane auf dem Tisch liegt. Da waren Welten dazwischen. Und leider, bis zum heutigen Zeitpunkt, bedaure ich, dass nur so wenige in den neuen Bundesländern sich politisch in die Pflicht nehmen lassen oder sich auch ein Stück stärker engagieren im Interesse des Gemeinwesens.“