Die Hymnen der Revolution

Ein Gastbeitrag von Giselher Quast über die Bedeutung der Musik bei der Friedlichen Revolution Magdeburgs

Musik – so alt wie die Menschheit, vermutlich noch älter. Sie klingt nicht nur im Ohr, sondern spielt in den Leben sehr vieler Menschen eine enorm wichtige Rolle. Um jene Wichtigkeit wusste 1989 auch Giselher Quast, der als Domprediger in Magdeburg die Friedliche Revolution an vorderster Front erlebte.

Musik hatte auch im Dom eine große Rolle gespielt. Ich hab das schon vor der Wende gemerkt, als in den zwei bis drei Jahren zuvor fast ausschließlich Ausreiseantragsteller kamen, die, wenn sie aus der DDR raus wollten, ihren Arbeitsplatz verloren hatten, diskriminiert und kriminalisiert wurden und oft unter schlimmen Bedingungen, manchmal auch unter Haft, warten mussten bis sie rausdurften.

Das Singen mit den Ausreiseantragsstellern war so einschneidend, denn viele hatten zu mir gesagt, das war wie Durchatmen für sie, wie eine Befreiung oder ein Aufatmen. Sich sozusagen musikalisch frei machen

zu können. Interessant war auch, die Stasi hat ja die Veranstaltungen beobachtet und sich unter die Leute gemischt. Sie wussten allerdings nicht, wie sie das Liederheft halten sollten, daran hat man sie sehr schnell erkannt (lacht).

Und das hat dann auch bei den Montagsgebeten eine Rolle gespielt. Da haben wir Zettel gedruckt mit aktuellen politischen Liedern, die wurden dann geklaut, die mussten wir immer wieder nachdrucken. Wahrscheinlich weil die Leute zu Hause weiter singen wollten … Musik hatte also einen besonderen Stellenwert.

Es gab zwei Lieder, das waren sozusagen die Hymnen der Revolution. Das eine kam aus Wittenberg von dem bekannten Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer: „Lieb dein Land, brich die Wand und sag es weiter“. Und das andere kam aus Westdeutschland von Peter Janssens, bekannter katholischer Liedermacher: „Wenn das Rote Meer grüne Welle hat, dann ziehen wir frei aus

dem Land der Sklaverei.“ Diese beiden Lieder wurden mit großer Begeisterung gesungen.

Die Stasi konnte das nur beobachten, sie haben nicht die Kirchen gestürmt und Leute verhaftet – das hätten sie sich gar nicht getraut. Magdeburg lag ja ganz nah zur Grenze zum Westen. Deswegen waren wir hier auch in gewisser Weise geschützter. Die Kirche war der einzige Ort zu dieser Zeit, in dem die Leute sich treffen konnten, ohne dass sie verhaftet wurden. Hätten sie sich in Wohnungen oder im Stadtpark getroffen und hätten sie Oppositionen gemacht, dafür gab es sogar einen Paragraphen, der hieß „Staatsfeindliche Zusammenrottung“, das konnte keiner wagen. Also sind sie alle in die Kirchen gekommen, wo man sich öffentlich äußern konnte ohne, dass die Stasi einschreiten würde. Mit Sicherheit waren von den Anwesenden 80 bis 90 Prozent Nicht-Christen. Aber die Kirche war nun mal lange der einzige Ort, wo politisch etwas passierte.

Original-Liedblatt von Giselher Quast

© Giselher Quast