„Nach Ungarn hatte ich nie Heimweh. Nach Magdeburg schon.“

„Nach Ungarn hatte ich nie Heimweh. Nach Magdeburg schon.“

Janos Raduly – Ungarn

Autoren:
Vivien Christoph und Robert Komnick


Janos Raduly aus Ungarn erlebte die Friedliche Revolution in Magdeburg nicht nur hautnah, er identifizierte sich mit ihren Zielen und mobilisierte auch andere Migranten, sich an den Protesten zu beteiligen. Eine Geschichte über das Ankommen in einem Staat, der gerade zusammenbrach.

Janos Raduly vor dem Rathausbalkon auf dem Alten Markt in Magdeburg
© Robert Komnick

Janos Raduly blickt zum Rathausbalkon.
Er steht auf dem Alten Markt in Magdeburg und erinnert sich an den Moment, als der damalige Oberbürgermeister Werner Herzig bei strömendem Regen versuchte, die Demonstranten zu beschwichtigen. „Er war überzeugt, die Stimmung noch mal umzulenken, dass die Leute nicht mehr zu Demos gehen – aber er wurde ganz böse ausgebuht. Das vergisst man nicht. Die Geräusche, die Zwischenrufe.“
So beschreibt Raduly die Bilder vom 6. November 1989, die sich so stark in sein Gedächtnis eingebrannt haben.

Heute ist der gebürtige Ungar 66 Jahre alt und deutscher Staatsbürger. Auch wegen seinen Gefühlen wie denen an jenem Montagabend im November 1989 auf dem Alten Markt hat er sich im Jahr darauf für die Einbürgerung und unter viel Herzschmerz gegen die ungarische Staatsbürgerschaft entschieden – und war damit Vorreiter einer Bewegung unter seinen ungarischen Arbeitskollegen. „Nach zwei bis drei Monaten zogen dann erst andere, befreundete Ungarn in Magdeburg nach.“

Raduly kam am 22. September 1972 als Vertragsarbeiter nach Magdeburg und verbrachte hier zunächst drei Jahre, in denen er auch seine spätere Frau kennenlernte.

Für ihn ist sie ein wichtiger Grund dafür, sich Mitte der 70er Jahre dauerhaft in Magdeburg niederzulassen.

Der gelernte Maschinenschlosser arbeitete im damaligen VEB (Volkseigener Betrieb, Anm. d. Aut.) der Karl-Marx-Armaturenwerke und sollte bis zu deren Schließung dort bleiben. Dort setzte sich Anfang 1989 etwas in der Gemeinschaft der Arbeiter in Bewegung: „Durch Arbeitskollegen – das war halt Buschfunk – kam die Information: Montagabend sind immer Demos rund um den Alten Markt und am Dom“, erzählt Raduly miteinem verschmitzten Lächeln.


„Manchmal habe ich sogar die Arbeit geschwänzt und frühzeitig Schluss gemacht in der Spätschicht. Es war eine bewegende Zeit.“


Janos Raduly verpasste fortan keine Demonstration – und das, obwohl er oft mit gemischten Gefühlen vom Dom heimfuhr. Befürchtungen, die sich Monate später zu Teilen bewahrheiten sollten: „Es gab das Gerücht, dass im Herrenkrug extra ein Territorium eingekesselt war, um die Demonstranten festzusetzen bis zum Verhör. Wir haben erst gedacht, es wäre ein Gerücht – später stellte sich heraus, es war eine Tatsache“, sagt Raduly nachdenklich.

Allgemein habe er in der Zeit jedoch keine Angst gehabt, zumindest nicht in der Zeit der großen Demonstrationen. Die Angst sollte erst drei bis vier Monate nach den Aufmärschen kommen, als die Ereignisse etwa im Neuen Forum, einer friedlichen Bürgerbewegung unter der Leitung von Bärbel Bohley, ausdiskutiert wurden. Janos Raduly erinnert sich: „Man hätte Mähdrescher, die Schneidewerkzeug vorne montiert hatten und in der Jakobstraße postiert waren, auf die Massen losgelassen, wenn es eskaliert wäre. Das war auch so ein Gerücht. Ich halte das für 90 Prozent glaubwürdig. Zum Glück ist sowas nie zum Einsatz gekommen. Gott sei Dank“, sagt Raduly erleichtert und blickt in die Ferne.


Vor Ort – auf dem Alten Markt, dem Breiten Weg und vor allem am Dom – waren jedoch andere Themen präsent. Janos Raduly wirkt beseelt, als er erzählt, wie sehr ihn die Reden der Domprediger Waltraut Zachhuber und Giselher Quast im Magdeburger Dom geprägt haben. Sie seien für ihn die ersten Personen gewesen, die erkannt haben, dass die Menschen Unterstützung brauchten. Sie waren zwei treibende Keile, die auch dem gebürtigen Ungarn die notwendige Motivation gaben, um zu sagen:
"Nächsten Montag bist du wieder dabei."

Raduly beschreibt die Zeit vor der politischen Wende heute zurückblickend als eine Mischung aus Euphorie, Begeisterung, Optimismus und Neugeburt für ihn selbst.


Nach 47 Jahren in Magdeburg sei das Jahr 1989 das bewegendste für Janos Raduly gewesen. Trotz aller Ablenkungen durch seine noch recht junge Tochter, Arbeit und Umschulungen hat er immer ein Auge auf die Politik geworfen und wurde dadurch selbst aktiv. So gründete er den Verein „Ungarn mitten in Sachsen-Anhalt e.V.“, in dem sich heute 25 Mitglieder für den Zusammenhalt der Gemeinschaft in Magdeburg engagieren. Er ist im Seniorenbeirat aktiv und Schöffe am Landgericht Magdeburg.

Raduly beteiligte sich an vielen Protesten im Herbst 89/90.
© Janos Raduly, Privatsammlung

Außerdem betreut er ehrenamtlich EU-Bürger auf der Arbeitssuche in Deutschland und hilft heute den Menschen so, wie er es damals gerne selbst erlebt hätte.

Zurück nach Ungarn verschlägt ihn jedoch nichts mehr, obwohl er sich damals Vorstellungen als Rentner in seinem Heimatland ausgemalt hat. Janos Raduly möchte weder sein politisches und gesellschaftliches Engagement aufgeben, noch seinen geliebten Freundeskreis hier vor Ort.



„In Ungarn wäre ich alleine und einsam. Nach Ungarn hatte ich auch nie Heimweh. Nach Magdeburg schon.“

previous arrowprevious arrow
next arrownext arrow
Slider